Martina Mettner: Am Anfang stand nicht die Fotografie, sondern ein Physikstudium.
Jürgen Scriba: Was auch sinnvoll ist, weil es einem grundsätzlich beibringt, akribisch Sachverhalte zu erkunden. Egal, ob man nun Halbleiterstrukturen untersucht oder eine Kamera benutzt – als Messinstrument, um zu verstehen, wie bestimmte Sachen funktionieren. Ich habe auch schon oft Menschen fotografiert, mich ihnen aber immer über die Situation und den Raum genähert.
Menschen als Strukturmuster, nicht als Individuen.
Ich habe zum Beispiel das Paternoster-Projekt in einer Versicherung gemacht, wo ich eine Situation erzeuge, indem ich die Kamera aufbaue und den Leuten sage, an der Stelle werdet ihr fotografiert. Mich interessieren immer die Menschen in ihrem Verhalten an einem bestimmten Ort, ob das nun der Hamburger Flughafen oder der Berliner Hauptbahnhof oder ein Museum in München ist. Das ist schon eine Laborsituation. Gerade bei dem Paternoster-Projekt habe ich als Fotograf eigentlich gar keine Funktion, da die Kamera automatisch auslöst, wenn der Paternoster in einer bestimmten Position ist. Die Leute wissen, wann und wo sie fotografiert werden und haben dadurch eine rudimentäre Kontrolle. Ich habe keine Kontrolle darüber, was sie machen und interagiere auch nicht. Ich war total verblüfft, welch tolle Porträts dabei herauskommen. Gerade in der strengen Struktur der Montage wird für mich das Individuum besonders sichtbar.
Die viele Kommunikation zwischen dem Fotografen und dem Porträtierten ist, glaube ich, normalerweise nötig, um den Kontrollverlust des Porträtierten abzumildern, das Gefühl des Ausgeliefertseins zu überwinden. In dem Fall aber ist er keinem Fotografen ausgeliefert, sondern in einem technischen Prozess, bei dem er entscheiden kann, ob er daran teilnimmt und wie er sich präsentiert. Vielleicht ist dadurch die Schwelle erst gar nicht da, die man kommunikativ überwinden müsste.
Guter Punkt. – Gerade unter dem Aspekt der künstlerischen „Versuchsanordnung“ ist ja Multimedia eine echte Option. Es gibt von Ihnen eine beeindruckende, schon etwas ältere Arbeit über das Oktoberfest. Dafür haben Sie speziell Musik komponiert?
Die Oktoberfestmusik stammt von Karl Bartos, ehemals Kraftwerk, der auch einige meiner Videosequenzen bei seiner Bühnenshow eingesetzt hat. Beim Berliner Hauptbahnhof habe ich eine eigene algorithmische Komposition verwendet. Da habe ich die Nachkommastellen der Zahl Pi in eine Tonleiter verwandelt und das kompositorisch eingesetzt.
I want. from J. Scriba on Vimeo.
Ihre Videos sind aber kein klassischer Zeitraffer, oder?
Das klassische Timelapse reiht ja Belichtungen aneinander. Ich arbeite mit Verschlusszeiten, die genau so lang sind wie der Abstand zwischen den Bildern. So dass jedes Bild keine Momentaufnahme ist, sondern den Prozess über einen bestimmten Zeitraum – ein oder zwei Sekunden – festhält. Dadurch entsteht ein eigentümlicher Kontrast zwischen der Bewegung der Objekte und den statischen Elementen wie Architektur. Das ist ja auch wieder das visuelle Ergebnis eines Vermessungsprozesses, nämlich der Quantisierung der Zeit in Abschnitte – die der Verschlusszeit. Erstaunlicherweise scheinen ja die meisten Leute, die Zeitrafferaufnahmen machen, diesen Aspekt gar nicht zu berücksichtigen. Das sind serielle Bilder, und diese Effekte des Verwischens kommen nur – quasi ungewollt – bei Nachtaufnahmen vor.
Sie benutzen dann wohl einen Graufilter?
Ja, genau. Und ich vergewaltige meine Kamera, indem ich die Serienbildfunktion benutze, aber die eingebaute Begrenzung auf etwa 200 Bilder umgehe. Und die Kamera wird auch richtig heiß dabei! Wenn ich im Abstand von einer Sekunde ein Bild aufnehme, dann wird das auch eine Sekunde lang belichtet. Eigentlich ist also die Kamera permanent an. Und dafür ist sie nicht gemacht.
Für diese Überlistung braucht man aber wahrscheinlich ein abgeschlossenes Physikstudium.
Das ist relativ simple Elektronikbastelei. Ausschlaggebend war eher, zu merken, dass es nicht gleichgültig ist, mit welcher Verschlusszeit ich belichte.
Medienkünstler Jürgen Scriba, 1969 in El Paso, USA geboren, ist promovierter Physiker, war Wissenschaftsredakteur bei den Magazinen „Focus“ und „Spiegel“ sowie Mitbegründer einer Biotechfirma. Derzeit lebt er mit seiner Familie in Ochsenfurt und rettet von dort aus Orgeln. Er ist Geschäftsführer der DFA Deutsche Fotografische Akademie e.V.