Wie findet und fotografiert man fremde Menschen in deren Wohnungen? Wie präsentiert man ein Fotoprojekt? Kann man vom Fotografieren leben? Drei Fragen, die sich viele Fotografierende stellen. Eine Antwort heißt „Beletage“ und wird gegeben vom „freundlichen Familienvater“ Lars Nickel. Der Untertitel seines Bildbandes mit Porträts in Berliner Wohnungen lautet „Ansichten eines Fensterputzers“. Das klingt nach betörend originellem Alleinstellungsmerkmal, weckt aber vielleicht falsche Vorstellungen. Zum Beruf des Fensterputzers kam der Vater von zwei Söhnen aus ökonomischen Erwägungen – und weil es eine familiäre „Vorbelastung“ gab. Zuerst aber war da die Liebe zur Fotografie, unter anderem eine Ausbildung zum Mediengestalter. Die scheint sich bewährt zu haben, denn die Gestaltung sämtlicher Medien ist so fein und durchdacht, dass man vor dem Gesamtprodukt – Buch, Website und Video – nur den Hut ziehen kann. Oder haben Sie schon einmal einen Bildband aufgeschlagen, dem eine Visitenkarte beilag? In diesem Fall sogar zwei, nämlich eine des Fotografen Lars Nickel und eine, die für ihn als Fensterputzer wirbt. (Ich befürchte jedoch, er arbeitet nicht bundesweit.)
1969 im Ostteil Berlins geboren, war Lars Nickel inzwischen in über 300 Berliner Wohnungen. Nach anfänglichen Hemmungen, als Dienstleister aufzutreten, schwanden bald auch jene, danach zu fragen, ob er die Bewohner porträtieren dürfe. Er arbeitet sehr reduziert und ruhig, dadurch wirken die Menschen gesammelt und konzentriert. Das „Geheimnis“ solch gelungener Porträts ist eine analoge Mittelformatkamera auf einem Stativ ohne zusätzliches Licht. Die Fenster sind ja nun sauber, da sollte es hell genug im Raum sein! Nickels hauptsächliche Regieanweisung scheint darin zu bestehen, das Tragen von Hausschuhen zu unterbinden.
Bestimmt hat er schon viel Schlimmes gesehen und vermeidet solche mit dem Alter ins Organische tendierende Fußbekleidung aus einleuchtendem Grund. Gleichwohl verströmt es die Aura der gewollten Sensibilität, wenn ein großer Teil der Porträtierten barfuß vor der Kamera steht – nie in Strümpfen! Gelegentlich mit Schuhen.
Der wunderbar altmodische, hier gut passende Ausdruck „Beletage“, der auf dem Buchcover sehr schön mit einem modernen Ambiente kontrastiert, bezeichnet die erste Etage in einem Gründerzeit-Mietshaus mit besonders hohen Decken und entsprechend schwer zu putzenden Fenstern. Das sortiert die Klientel durchaus vor, aber erhöht auch die Vergleichbarkeit der Altbaueinrichtungen. Damit löst Lars Nickels Buch das Versprechen der Fotografie, ungehemmt schauen zu dürfen, gleich doppelt ein: einmal durch die den Betrachter unmittelbar ansprechenden Porträts, zum zweiten durch die Einladung in Räume, die öffentlichen Blicken normalerweise nicht zugänglich sind. „Beletage“ belegt, dass es der Kunst der Fotografie zugute kommt, wenn sie mit einem Handwerk jenseits der Fototechnik klug kombiniert wird.
Für die Mustergültigkeit des Gesamtprojektes in Ausdruck und Gestaltung und für die sympathische, positive Ausstrahlung insgesamt ernenne ich „Beletage“ von Lars Nickel zum Fotofeinkost-Porträt-Fotobuch 2014.
Lars Nickel: Beletage – Ansichten eines Fensterputzers
Braus, Berlin 2014
Hardcover, Format: 24 x 29,5 cm, 80 Abbildungen, 96 Seiten, 29,95 EUR
ISBN 9783862281060