„Fotografie als zeitgenössische Kunst“ heißt ein im Deutschen Kunstverlag erschienener Titel, der über aktuelle Tendenzen in jener Fotografie informiert, die auf den Kunstmarkt zielt. In der Reihe „dkv kunst kompakt“ 2011 als Band 1 nun doch schon etliche Jahre nach seinem Ersterscheinen (2004) publiziert, zielt diese Zusammenstellung sicherlich mehr auf Kunstorientierte, die mit Fotografie zu tun haben, denn auf interessierte Fotografierende. Ausgewählt und erarbeitet hat den Band Charlotte Cotton, eine renommierte britische Fachfrau, die derzeit Kreativchefin des National Media Museum in Bradford (England) ist.
In der Einleitung steht: „Dieses Buch will … einen Eindruck vermitteln, welches breite Spektrum von Motivationen und Ausdrucksformen zurzeit auf diesem Gebiet vorhanden ist. Es soll einen Überblick bieten – jene Art von Überblick, die man bekommt, wenn man eine ganze Reihe Ausstellungen der freien Kunstszene, öffentlicher Einrichtungen, Museen und Galerien in den wichtigen Kunstzentren New York, Berlin, Tokio und London besucht hat.“ Und das löst das Buch von Charlotte Cotton auch ein, wenn auch nur für die Zeit bis etwa 2005. (Die wichtigste Fotokünstlerin der Gegenwart, Taryn Simon, fehlt gänzlich.)
Die visuelle Wucht schmutziger Wäsche
In der Einleitung steht aber auch: „Beispielsweise werden Straßenmüll, verlassene Räume oder schmutzige Wäsche inhaltlich durch die visuelle Wucht verändert, die sie bekommen, wenn sie fotografiert und als Kunst ausgestellt werden.“ Wer also immer schon einmal wissen wollte, woher die vielen unschönen und nichts sagenden Fotos kommen, die in Museen hängen, findet hier Antworten und Denkanstöße. Und natürlich sind in dem Buch auch überaus beeindruckende Fotografien und wirklich wichtige Fotografinnen und Fotografen besprochen. Charlotte Cotton hat sich insgesamt einer großen und nicht wirklich dankbaren Aufgabe angenommen.
Sie unterteilt die Flut der Bilder in acht Kapitel, deren Oberbegriffe jedoch wenig zur Orientierung beitragen: „Es war einmal“, „Leblos“, „Etwas und nichts“. Speziell die Bezeichnung „leblos“ für dokumentarisch schlichte Abbildungen von Landschaften und Menschen, ist ein übler Fehlgriff. In Cottons Originaltext findet man dafür den Ausdruck „deadpan“, der nun etwas völlig anderes bedeutet als „leblos“, nämlich „ausdruckslos“ im Sinne von nicht-expressiv, häufig verwendet als „deadpan humor“, trockener Humor. Dino Heicker, der Übersetzer, kennt sich mit Fotografie anscheinend nicht gut aus (z. B. „Teleobjektivkamera“) und behält die Satzstellung des Originals bei, so dass der Text immer wieder in sinnfreies Geschwurbel abdriftet, gelegentlich sich sogar Bildkommentar und Text zum gleichen Motiv widersprechen.
Ein Beispiel von Seite 70: Es geht um den Künstler Christopher Stewart und sein Werk „United States of America“, für das er die Arbeit privater Sicherheitsfirmen fotografierte. Im Fließtext heißt es: „Interessant an seiner Herangehensweise ist, dass er bei seiner Beschreibung von realen Security-Situationen nicht den herkömmlichen Weg des Dokumentarischen oder des Fotojournalismus beschreitet, sondern dass er die Tableaufotografie einsetzt, um den Überwachungen, deren Zeuge er ist, mehr Gewicht zu verleihen.“ (Den Überwachungen verleiht er sicher nicht mehr Gewicht, höchstens deren visueller Umsetzung.)
Im Bildtext 65, direkt daneben, heißt es: „Die Aufnahme entstand, als er Sicherheitsleute auf Übungen begleitete. Angesichts des dramatischen Lichts und des Mangels an ablenkenden Einzelheiten im Raum verwundert es, dass Stewart das Modell nicht angeleitet hat und die Innenausstattung nicht geändert hat.“ (Gemeint ist das Gegenteil: Es würde verwundern, wenn er nicht geändert hätte, denn unterstellt wird ja, dass es sich um ein inszeniertes Foto handelt, vom Übersetzer obstinat Tableau genannt.)
Vielleicht ist die Ursache eine ungute Kombination von Termindruck und Unterbezahlung, aber gedruckt ist gedruckt. Und das Ganze ist eigentlich unlesbar. (Ich fräse mich gerade durch englischsprachige Fotobücher und wollte zur Entspannung etwas auf Deutsch lesen. #fail)
Meine Empfehlung: Gute Übersicht über die Fotografie der letzten Jahrhundertwende in einem handlichen Format zu einem günstigen Preis. Wer des Englischen mächtig ist, sollte sich jedoch besser die Originalausgabe „The Photograph as Contemporary Art“ besorgen.
Charlotte Cotton: Fotografie als zeitgenössische Kunst
Kunst kompakt Band 1, Deutscher Kunstbuchverlag, 2011
248 Seiten mit ca. 210 farbigen und 37 schwarzweißen Abbildungen, 15 x 21 cm, Flexicover
€ 19,90 [D] / € 20,50 [A] / sFr 28,90 [CH] ISBN 978-3-422-07096-7