Gibt es Zufälle? Vielleicht nicht. Auf jeden Fall gibt es immer wieder Fotografinnen und Fotografen zu entdecken, die großes Potenzial haben, aber (noch) wenig bekannt sind. Ursula Müllers Webseite fand ich zufällig bei der Vorbereitung auf einen Vortrag, den ich am 19. April in Zürich hielt. Ihre Fotoarbeit „Was bleibt?“ berührt mich sehr. Endlich einmal keine „Position“, die vertreten wird, sondern eine gefühlvolle Auseinandersetzung mit dem Leben einer Frau über Achtzig, mit dem, was von ihr zu sehen bleibt, wenn sie gegangen ist.
Hertha Ochsner-Schriebl heißt die Protagonistin der fotografischen Erkundung. Sie kam nach Kriegsende aus Österreich in die Ostschweiz. In den vergangenen 45 Jahren lebte sie in Speicher AR, war die Inhaberin eines Haushalts- und Eisenwarengeschäftes, bis kurz vor ihrem Tod mit 81 Jahren. „Hertha Ochsner-Schriebl habe ich nicht gekannt“, sagt Ursula Müller. In Zürich hatte ich die Freude, die Fotografin zu treffen und die komplette Serie ansehen zu können. „Sie war die Mutter einer ehemaligen Nachbarin.“ Diese Nachbarin gab ihr den Auftrag, die Einrichtung der mütterlichen Wohnung zu fotografieren, als die Mutter ins Heim musste. Ursula Müller versprach, nichts anzurühren. Erst, nachdem Hertha Ochsner verstorben war, entstand die eigentliche Serie, bei der zum Fotografieren einzelne Gegenstände aus der Umgebung gelöst und auf vorhandenen Freiflächen arrangiert wurden. „So lernte ich Hertha Ochsner doch noch kennen“, sagt die Fotografin. „Durch ihr Haus nämlich, die Räume, die sie bewohnte, die Dinge, die sie benutzte, die Kleider, die sie trug. Und die Spuren, die sie hinterliess in ihrem Tun.“
Überzeugend ist die Bildästhetik, mit der sie ihre Empfindungen und Lebenserfahrung ins fotografische Bild einfließen lässt. Vor allem erstaunlich ist die Intimität, die aus den Arbeiten strahlt. Speziell, wenn man der zarten Ursula Müller zu einem herrlich langen Gespräch über Fotografie und das Leben gegenüber gesessen hat, weiß man, wie sehr diese Fotos mit ihr identisch sind. Reto Camenisch, der mit ihrer Ausstellung die MAZ Galerie in Luzern eröffnete, spricht „vom sorgfältigen Umgang und Blick einer Fotografin, die ihr eigenes Wesen unaufdringlich und zurückhalend in die Bilder einzubringen vermag.“
Sie möge nun nicht auf das Alter und das, was von einem Leben bleibt, festgelegt werden, wünscht man ihr. Aber ach, sagt sie dann, sie interessiere sich wirklich für Menschen jeden Alters und die Abdrücke, die ein Leben in der Realität hinterlässt. Und so stellt sich das schöne Gefühl ein, dass hier eine Frau, Mutter von zwei Kindern, zu sich und dem, was sie der Welt mitzuteilen und zu geben hat, fand. Nicht einfach so, natürlich, sondern nach einer Ausbildung, die sie 2003 begann. Seit 2005 arbeitet sie als freie Fotografin. Ursula Müller lebt in der Nähe von Zürich. Ihre Ausstellung in der MAZ Galerie, Murbacherstr. 3, 6003 Luzern, ist noch bis zum 5. Juli 2012 zu sehen.