„Dies ist ein guter Moment, um Chris Killips Werk zu betrachten“, beginnt ein Text im Buch, das zugleich Ausstellungskatalog ist. Nur noch bis zum 15. April 2012 zeigt das Museum Folkwang die Arbeiten des 1946 auf der Isle of Man geborenen Fotografen. Es ist das letzte monografische Projekt von Ute Eskildsen als Leiterin der Fotografischen Sammlung des Museum Folkwang. 1988 erschien Chris Killips Buch „In Flagrante“, das ihn international bekannt machte. Das Museum kaufte damals fünf Bilder aus dem Buch, doch erst jetzt kam es zu der Einzelausstellung – da kann man wieder einmal sehen, wie lange es dauert.
Chris Killip begann seine fotografische Karriere als Assistent von Adrian Flowers in London und arbeitete ab 1969 als freier, kommerzieller Fotograf. Er ist Gründungsmitglied der Side Gallery in Newcastle upon-Tyne, wo er als Direktor und Kurator Fotografieausstellungen organisierte. Ab 1973 wurden zahlreiche Einzelausstellungen von Killips Werken gezeigt. Seit 1991 hat er eine Professor für Fotografie an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, inne. Und, was erstaunlich ist, aber auch sehr konsequent wirkt: Es gibt (bisher) keine Fotos von ihm aus den USA. Seine in Buch und Ausstellung gezeigten Fotos entstanden auf der Isle of Man, wo er aufwuchs, und in Irland, wo er zehn Jahre lang Pilger fotografisch begleitete, hauptsächlich aber im Norden Englands, wo er den soziokulturellen Wandel durch die Deindustrialisierung fotografisch erfaßte.
Gerry Badger, ein britischer Fotokritiker und Autor, schreibt sinngemäß in einem seiner Bücher, es sei für jeden Fotografen wichtig, eine intensive Zeit mit einem guten Vorbild zuzubringen, das könne auch in Form eines Buches sein. Die stets schwarz-weißen Fotografien von Chris Killip sind solche Aufnahmen, anhand derer man lernt, was Fotografie im Idealfall sein kann. Das hängt weniger mit dem Sujet zusammen (traurige Lebensbedingungen ergeben nicht per se gute Fotos), sondern mit Killips Einführungsvermögen, seiner Ruhe, die Szenen zu betrachten und mit seinem überwältigenden Raumgefühl. Selten sieht man fotografische Arbeiten, die Situationen so fotografisch verdichten. Und wann immer mir solche Arbeiten unterkommen, muss ich feststellen, dass sie mit einer Großformatkamera, hier: 4×5 inch, aufgenommen wurden. Die Abzüge messen übrigens nur 80 x 65 cm, was wirklich kleinformatig ist, angesichts der aufgeblähten Formate, die inzwischen in den Museen hängen.
Überwältigend sind die Arbeiten „Shippbuilding“, bei denen die Häuser direkt an die Hafenbecken angrenzen und die Menschen wie Spielzeugfiguren erscheinen. Der Mensch in seiner Umgebung: Bei Killip kann man lernen, wie das aussehen und wirken kann. Wobei es wirkt, weil er es gefühlt hat – und nicht, weil er irgendwelche Gestaltungsregeln blindlings anwandte. Ergreifend sind die Porträts. Leider nicht freigegeben ist mein Favorit, der Trade Union Official in Newcastle, 1979. Er steht im Vordergrund, hinter sich eine steil aufwärts führende, an beiden Seiten durch Steinmauern begrenzte Kopfsteinpflasterstraße. In der linken Bildhälfte oben sieht man ein Haus und Plakatwände. Vom symbolischen Gehalt einmal abgesehen, finde ich den Umgang mit dem Bildraum beeindruckend, die erfaßte Haltung des Mannes und überhaupt das Porträt im Freien, das so viel mehr sagt als eines im Studio, ohne unruhig zu sein.
Gleich das folgende Motiv auf den leider unpaginierten Buchseiten zeigt etwa acht Personen und drei Hunde auf der Isle of Man: „Trashing at Grenaby“, 1973. Vermutlich hat es mit dem Dreschen des Getreides zu tun, was die vier Personengruppen dort tun. Das Ganze wirkt wie ein Handlungsablauf von links nach rechts, mit einer durch den tiefen Kamerastandpunkt wiederum faszinierenden Aufteilung des Bildraumes mittels so ziemlich im goldenen Schnitt verlaufenden Linien und zusätzlichen Diagonalen. (Und so kann man eigentlich Bild für Bild durchgehen.) Auch bei dem nachfolgend gezeigten: Der Ausdruck, die Relation der Personen zueinander, die Raumaufteilung mit der Bildtiefe, der Bogen der Straße, der sich im Arm auf dem Autodach spiegelt, die Hell-dunkel-Aufteilung der Bildfläche … (Das Tattoo am Hals zeigt den Schriftzug „Bever“ zwischen Herzen.) Trotz der zu erkennenden Automodelle hat das Motiv eine ungeheure Präsenz und Zeitlosigkeit.
Der Fotograf hat es als Dokument fotografiert, doch ausgewählt als Pressefoto wird so ein Motiv wegen der Pop-Art-Referenz und derweil eventuell auch noch wegen Gurskys 99Cent-Motiv. Typisch für die Arbeit von Chris Killip ist es nicht und fotografisch interessant auch nicht. Ich zeige es nur, weil die Art und Weise, in der ein Fotograf öffentlich repräsentiert wird, immer stärker von den Regeln des Kulturbetriebs geprägt wird, der sich gerne in Vergleichen zu anderen Künstlern ergeht, statt das Individuelle des mit der Ausstellung Gewürdigten zu betonen. Wird es oft genug veröffentlicht, hat sich dieses, für Chris Killip platte Motiv (im Unterschied zu seinen in den Raum gestaffelten) eingeprägt und gilt womöglich als repräsentativ.
In der Flut der digitalen Bilderwelt und angesichts der Orientierungslosigkeit in einem sich dramatisch wandelnden Berufsfeld wie der Fotografie, kann man froh sein um einen Leuchtturm wie Chris Killip, der mit seinen, wenn auch nicht mehr taufrischen Arbeiten, doch in der Lage ist, uns Suchende wieder einzunorden auf das, was man mit Empathie, Geist und der Großbildkamera zu leisten im Stande ist. Danke auch an Ute Eskildsen, die das möglich machte, und die nun hoffentlich nicht „retired“.
Wer es einrichten kann, die Ausstellung zu sehen: Bis 15. April 2012 im Museum Folkwang in Essen.
Das Buch ist in der Edition Folkwang bei Steidl erschienen, hat ca. 137 Seiten und enthält einen guten Überblick über Chris Killips wichtigste Serien und Porträts, Leinengebunden mit Schutzumschlag, 38,00 Euro. (Zusatztipp: Das preisreduzierte „Pirelli Work“ als Beispiel für Industriefotografie mitbestellen.)
Eine Antwort
Vielen Dank für den Tipp. Ein wunderbares Buch, dessen Bilder wohl teilweise schon untergegangene Welten schildern, aber auch auf spätere Künstler wie z.B. Martin Parr hinweisen. Die Druckqualität ist hervorragend, aber das ist bei Steidl auch nicht anders zu erwarten.