Warum Heinrich Riebesehl mehr Anerkennung verdient hätte

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Am 31. Oktober 2010 verstarb nach langer Krankheit 72jährig Heinrich Riebesehl, der nun in den Feuilletons abwechselnd als Heimatfotograf und als wichtiger deutscher Nachkriegsfotograf betitelt wird. Das eine reduziert ihn auf den Dokumentaristen der Norddeutschen Tiefebene, das andere klebt ihm ein eher nichts sagendes Etikett auf. Stellt sich nicht die Frage, warum er wichtig ist, aber weitgehend unbekannt blieb? Und worin besteht diese Bedeutung? Kann ein Fotograf die Fotografie verändert haben, ohne dass dies öffentlich anerkannt wird? Ja, in Deutschland schon. Hier werden bedeutende Künstler durchaus gering geschätzt, da kann man jeden Schriftsteller oder Maler fragen. Mit der Verleihung regionaler Kunstpreise ist es eben nicht getan. Das deutsche Dilemma wird gerade anhand der Nachrufe deutlich: Es gibt zwar viele, aber sie beschränken sich weitgehend auf die Wiedergabe der durch das Sprengel Museum versandten Presseinformation. Die TAZ bringt immerhin ein Interview mit der Leiterin der Fotoabteilung des Sprengel-Museums, Inka Schube, die Riebesehl unversehens in die amerikanische „New Topographics“ eingemeindet statt seine singuläre Leistung herauszustellen.

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Riebesehl war überhaupt der erste zeitgenössische autonome künstlerische Fotograf in Deutschland. Während er in seinem ersten Buch „Situationen und Objekte“ noch eine dem Zeitgeist verhaftete, mit starken Kontrasten arbeitende, „magisch realistische“ Fotografie präsentierte, fand er rasch zu seinem eigenen, sehr kargen Stil. Mit der Großbildkamera auf dem Fahrrad erkundete er die agrarisch genutzten Flächen seiner norddeutschen Heimat, fotografierte die Kartoffelernte, Kohlfelder, den umgepflügten Boden. Während die meisten Fotografen hierzulande auf dem Wellenkamm der Reportage- und Editorialfotografie segelten, verfolgte Heinrich Riebesehl einen selbstgesetzten Auftrag, ein großes künstlerisches Projekt. Publiziert wurden 1979 die „Agrarlandschaften“ als großformatiger Bildband, das erste Autoren-Fotobuch in Deutschland.

Es gab damals eine aus den USA importierte Euphorie, die Fotografie jetzt auch hier als Kunstform zu etablieren, die Riebesehl animierte, quasi nebenher 1972 mit der Spectrum Photogalerie die erste Fotogalerie in Deutschland zu gründen. Rudolf Kicken, der heute Riebesehl auf dem Kunstmarkt vertritt, begann seine eigene Galeristentätigkeit 1974 in Aachen, zusammen mit Wilhelm Schürmann: „Damals habe ich immer gesagt, wir sind fünf Jahre hinter den Amerikanern zurück. Das stimmte nicht. Wir waren zwanzig Jahre zurück.“

Nicht nur waren wir zurück, was die Verkäufe von Fotografie angeht, auch war die Situation der Fotografen hier eine vollständig andere. Da gab es das Handwerk und die Reportagefotografen, das war’s. Schüler von Otto Steinert, dem Lehrer an der Folkwangschule in Essen, allen voran Heiner Riebesehl, waren in den 70erjahren die ersten, die aus der journalistischen Herangehensweise an Realität eine künstlerische Umsetzung entwickelten und zugleich ein neues Selbstbild als freier, künstlerischer Fotograf erschufen.

Riebesehl ging mit seinem kompromisslosen Weg als Künstler ein hohes persönliches Risiko ein, denn es gab für ihn keine Struktur, in der er sein Künstlersein hätte entfalten können. Er konnte auch nicht einfach aus Hannover weg. Er fotografierte ja das, was ihn interessierte, was er kannte und was ihm rund ums Jahr zugänglich war – seine Landschaft, die den Hamburger Hafen und Bahnübergänge ebenso einschloss wie die Kuhweiden rund um Hannover. Um überhaupt ein regelmäßiges Einkommen zu haben, nahm er 1984 die Stelle im Studienbereich Visuelle Kommunikation an der Fachhochschule Hannover an. Eine eher unglückliche Konstruktion über eine lange Zeit. Erst 1995 wurde er zum Professor für künstlerische Fotografie ernannt, doch schon zwei Jahre später musste er sich aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand versetzen lassen. [Korrektur: Ab 1973 hatte er bereits eine Stelle als künstlerischer Mitarbeiter inne. 1984 wurde er zum Professor für Künstlerische Konzeption mit technischen Medien berufen.]

Sowohl durch den schlichten dokumentarischen Stil als auch biografisch drängt sich hier der Vergleich zu den Bechers auf: Inhaltlich liegt der große Unterschied darin, dass die Bechers Objekte mit der Kamera sammelten, um den direkten Vergleich in Tableaus zu ermöglichen. Interessant war ihnen der skulpturale Charakter der Industrieobjekte. Bei Riebesehl ging es nie um das Sammeln. Er traf immer eine qualitative Auswahl. Wenn er an einem Tag Schuppen auf dem Feld fotografierte, dann suchte er schließlich jenen aus, der ihm künstlerisch gelungen war. Kriterium war dabei nur am Rande die Oberfläche, die optische Erscheinung. Es ging intuitiv stets viel tiefer. Es ging um den Verweis auf die durch den Schuppen oder den Acker oder den Kartoffelsack repräsentierte Lebenswelt. Es sind Spuren, die Menschen hinterlassen haben, und die werden fotografisch schlicht abgebildet, jedoch die Auswahl des Realitätsausschnittes ist eine sehr persönliche Entscheidung des Fotografen und spricht so auch von ihm, seiner Biografie, seiner Haltung, die er gegenüber dieser Landschaft einnimmt. Durch den Bezug auf die Person hinter der Kamera und die Menschen, die diese Landschaft bearbeiten, berühren seine Fotos bei aller optischen Schlichtheit, darum sind sie zeitlos und für sich selbst stehend. Das Glück der Bechers, vom Kunstmarkt umarmt zu werden, weil die Arbeiten so gut in die seinerzeit aktuelle Konzeptkunst passten, und in der Folge an einer Kunstakademie unterrichten zu dürfen, war Riebesehl nicht beschieden.

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Heinrich Riebesehl lediglich als Dokumentaristen der Landschaft Niedersachsens zu verstehen oder ihn gar nach solch äußerlichen Kriterien unter andere Stilrichtungen zu subsumieren, heißt, seine Bedeutung nicht zu begreifen. Für die deutsche Fotografie ist er vom Range eines August Sander, der auch eine Künstlerpersönlichkeit war, und mit einem großen, selbstgestellten Auftrag in der Porträtfotografie neue Dimensionen eröffnete.

Heinrich Riebesehl hat nichts weniger getan, als die Landschaftsfotografie auf ein neues Niveau zu führen. Statt pittoresker Aufnahmen bei spektakulärem Licht liefert er Ansichten eines landschaftlichen Charakters, vermittelt die Empfindung dieser Ebenen, in denen Menschen über Jahrzehnte immer wieder den Boden umpflügen oder Güter auf Schienen transportieren. In der von ihm fotografisch kultivierten Nüchternheit kommt das kongenial zu Deckung: Sein eigenes norddeutsches Understatement lässt ihn optisch unaufgeregt in einer unspektakulären Landschaft Ansichten finden, die eine Empfindung in jedem Betrachter auslösen, der bereit ist, sich darauf einzulassen. Das eben ist die Kunst mittels Kamera.

Und noch etwas sollte man nicht vergessen: Wer heute Fotografie studiert, mit dem Ziel, möglichst von seinen freien Fotoprojekten leben zu können, der folgt einem Ideal, das Heinrich Riebesehl in den Siebzigerjahren als erster vorlebte.

Die deutsche Fotografie hat Heinrich Riebesehl viel zu verdanken.

Persönliche Ergänzung

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere Anfang der 80erjahre hatte ich mich an Heinrich Riebesehl gewandt, um meine Doktorarbeit über ihn und die Entwicklung der Fotografie in den 70erjahren zu schreiben. (1987 erschien „Die Autonomisierung der Fotografie“ im Jonas Verlag, Marburg, meines Wissens die erste und einzige Dissertation über ihn sowie über André Gelpke und Verena von Gagern.) Begriffen, was Fotografie wirklich bedeutet, habe ich erst durch die Analyse der mehrstündigen, mehrtägigen Gespräche mit ihm. Wie vollzog sich der Schritt von der optisch attraktiven zur dokumentarisch schlichten Fotografie? Wie geht er vor beim Fotografieren? Was waren die biografischen Gründe, ein Pionier der künstlerischen Fotografie zu werden? Für mich wurden diese Analysen die Basis dessen, was ich seitdem mit Begeisterung fortgeführt, erweitert und durch Erfahrung angereichert habe: Das Potenzial eines Fotografen zu analysieren und konkrete Vorschläge für individuelle Projekte, die kommerzielle oder künstlerische Entwicklung zu machen.

Ich werde immer dankbar dafür sein, ihn kennengelernt zu haben. Er hätte nicht nur mehr Anerkennung zu Lebzeiten, sondern auch ein gnädigeres Schicksal verdient gehabt. Ich hoffe, es gibt, wo immer er jetzt ist, eine Fachkamera, ein Fahrrad und viel flache Landschaft.

Zu den Abbildungen:

1. Heinrich Riebesehl im Hamburger Hafen bei den Dreharbeiten des Films über ihn, den ich 1985 für NDR3 realisieren konnte. Im Hintergrund die NDR-Redakteurin.

2. Mein Exemplar von „Situationen und Objekte“, der ersten Monografie über einen zeitgenössischen Fotografen von Jörg Krichbaum, der leider schon 2002 verstarb.

3. Die großformatige Ausgabe der „Agrarlandschaften“ von 1979 und der winzige Katalog der gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle Bremen 1980, ein Band über ihn, den er mir 1988 zum Geburtstag sandte (einen Tag früher als seiner) sowie der bei Hatje Cantz erschienene Katalog zur Ausstellung im Sprengel Museum Hannover, 2004.

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Im Oktober 1984 hielt ich die Eröffnungsrede bei seiner Ausstellung in Frankfurt am Main. Links Heiner Riebesehl, in der Mitte ich, wer das rechts ist, weiß ich nicht mehr.

Eine Antwort

  1. Ich habe Herrn Riebesehl bei einem Besuch im Jahre 2006 gefragt, ob es einen Ort gäbe, den er gern nochmal auf der Mattscheibe einer Kamera betrachtet hätte. „Nein. Das ist meine Landschaft, ja, und die wird es wahrscheinlich auch bis zum Sterben bleiben.“