Kommen Sie in diesem Jahr nach Paris? Dann sollten Sie die bis zum 15. November 2018 laufende Ausstellung „Verfolgte/Verfolger, Menschen des 20. Jahrhunderts“ unbedingt einplanen. Sie wird ausgerichtet im Mémorial de la Shoah, der Gedenk- und Dokumentationsstätte für die Verfolgung der Juden in Frankreich. Ein unerwarteter Ort für eine Fotoausstellung mit Arbeiten von August Sander (1876-1964), zumal Sander kein Jude war. Aber ein sehr passender für seine Arbeiten aus der Zeit des Dritten Reiches und jene seines im kommunistischen Widerstand aktiven Sohnes Erich.
Antlitz der Zeit
Die Bilder aus „Menschen des 20. Jahrhunderts“, vor allem aus dem Kernteil „Antlitz der Zeit“, sind ein wichtiger Teil der deutschen Kulturgeschichte und daher weitgehend vertraut. „Diese Arbeit wurde für ihren ästhetischen Wert so lange gefeiert, dass die Leute etwas von der Schönheit der Bilder geblendet waren“, sagte Julian Sander, Ur-Enkel des Fotografen. Speziell in die Zeit hinein versetzt ein Brief, in dem Sander mitgeteilt wird, dass sein Buch „Antlitz der Zeit“ beschlagnahmt sei. Die Druckstöcke wurden vernichtet. Sanders Anspruch, Menschen aller Art und Schichten zu fotografieren, passte nicht in die nationalsozialistische Ideologie. Mit der Ausstellung „Persécutes / Persécuteurs“ legen die Kuratoren Sophie Nagiscarde und Marie-Edith Agostini den Fokus auf die politische und soziale Dimension der Sanderschen Arbeit. Ein dazugehöriger, berührender Aspekt ist das Verhältnis August Sanders zu seinem Sohn Erich.
Verfolger und Verfolgte
Meinen Eindruck der hervorragend dreisprachig aufbereiteten Ausstellung kann ich nicht mehr davon trennen, die Räume in umgekehrter Reihenfolge angesehen zu haben. Im letzten Raum werden Kontaktabzüge von Informationsblättern angezeigt, auf denen mit Hilfe des Kölner NS-Dokumentationszentrums die Familien der fotografierten Personen rekonstruiert wurden. „Dieser letzte, intimere Schritt verbindet den künstlerischen Blick des Fotografen mit den völlig prosaischen Details des Lebens dieser Männer und Frauen, stolze Vertreter des vielgestaltigen Deutschlands, das Sander den Augen der Welt nahe bringen wollte“, wie es in einer französischen Besprechung heißt.
Das eindrücklich inszenierte Zentrum der Ausstellung (siehe Arte-Video) ist ein ovaler Raum, in dem die Porträts der Verfolgten auf der einen und die der Verfolger auf der anderen Seite hängen. Das ist der Raum, in dem man das Wesentliche über Porträtfotografie lernen kann! Wie Sander interessiert und zugewandt, ohne offensichtliches Vorurteil Nazis fotografiert, ist schlicht beeindruckend. Bei den Porträts der Verfolgten fällt auf, dass sie meistens nach links blicken. Da Sander die Aufnahmen für deren Ausweisdokumente anfertigte, mag es dafür einen praktischen Grund gegeben haben. Man kann es aber auch so empfinden, dass hier eine Entrücktheit deutlich wird – sowohl des Fotografen wie auch der Fotografierten, die vielfach von dem ihnen drohenden Schicksal gewußt haben werden. „Alles hervorragende Köpfe unpolitischer Menschen“, wie Sander schrieb.
Erich Sander Fotograf
Erich war der älteste Sohn, geboren 1903 in Linz, Österreich, wo Sander einige Jahre ein Fotoatelier leitete, bis er 1910 nach Köln übersiedelte. 1922 trat Erich Sander der Liga junger Kommunisten Deutschlands bei. August Sander, als überzeugter Sozialdemokrat, lehnte diese Entscheidung ab. Vater und Sohn waren sich aber einig, was die Fotografie anging, die Erich mit Leidenschaft betrieb.
1924 trat Erich in die Deutsche Kommunistische Partei ein. Im Oktober 1932 wurde er zum Leiter der SAP, der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, ernannt und anschließend im Widerstand tätig. Zu dieser Zeit entwarf er Flugblätter, die er auf dem Dachboden des Hauses der Familie vervielfältigte. Am 11. September 1934 wurde Erich Sander von der Gestapo verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. In „Menschen des 20. Jahrhunderts“ heißt es über seinen Gefängnisaufenthalt: Erich Sander wurde „von der Anstaltsleitung beauftragt, … auch Photodokumentationen durchzuführen. Die in diesem Rahmen entstandenen Porträts politischer Gefangener leitete Erich Sander als Negativ- oder Positivmaterial heimlich seinen Eltern mit der Bitte zu, Abzüge an Verwandte oder Freunde der Abgebildeten zu senden. Die späteren Mappenabzüge konnten auf diese Weise von August Sander selbst hergestellt werden.“
Im März 1944 bekam Erich Sander eine Blinddarmentzündung. Zu spät ins Krankenhaus verlegt, starb er am 23. März 1944. August Sander fertigte eine Totenmaske seines Sohnes und errichtete zu seinen Ehren einen Altar in seinem Büro, wie man auf einem Foto in der Ausstellung gut erkennen kann.
MÉMORIAL DE LA SHOAH
17 rue Geoffroy l’Asnier
75004 Paris
Eintritt frei. (Das Mémorial de la Shoah befindet sich übrigens nicht weit vom Maison Europénne de la Photographie.)
Artikelbild: Gunther Sander, August Sander à Kuchhausen, c. 1956/1958. Tirage d‘époque gélatino- argentique, 1990. (Ausschnitt) © Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – August Sander Archiv, Cologne; VG Bild-Kunst, Bonn; ADAGP, Paris, 2018. Courtesy of Gallery Julian Sander, Cologne and Hauser & Wirth, New York.