Analog war nie wirklich weg, galt aber ein Jahrzehnt lang als äußerst uncool. Nun sind es gerade die Jungen – Fotointeressierte unter 35 Jahren – die ihre große Freude am Analogen entdecken. Das hat bei ihnen klarerweise nichts mit Nostalgie zu tun, sondern ist Ausdruck zutiefst menschlicher Bedürfnisse und einer Veränderung unserer Werte. Je digitaler und hektischer unsere Welt wird, desto mehr wächst die Sehnsucht nach Muße und Berührung. Als wichtiger Wert, gar „Währung“, gilt heute die Aufmerksamkeit; als höchstes Gut: Zeit. Da sind insbesondere Fotografierende privilegiert. Sie können Zeit schenken, sogar anhalten, die Welt be-greifbar machen und dafür Aufmerksamkeit erhalten.
Ein Touchscreen-Bild ist nicht haptisch
Immer mehr Stunden am Tag schaut man auf ein Display. Beim Schreiben eines Textes, beim Lesen seiner digitalen Post, bei den Kontakten mit seinen Followern und Freunden auf Facebook. Autofahrer leitet das Display des Navis. Beim Fotografieren guckt man auf einen kleinen Monitor, bei der Bildbearbeitung auf einen großen. Und anschließend sitzen wir zur Entspannung vor dem Flatscreen im Wohnzimmer.
Seit Jahren shoppen wir online, aber ein Touchscreen ist kein Ersatz fürs Anfassen der Ware. Vor dem Kaufabschluss ist nicht mehr festzustellen, wie qualitätvoll ein Material ist. Fatalistisch gesprochen ist das ohnehin gleichgültig geworden, seit alles unter Kostendruck in China produziert wird.
Es wird immer unsinnlicher
Mit dem Einzug von Virtual Reality, kurz: VR, wird es noch visueller und zugleich unsinnlicher. Eine der Anwendungen wird sein, dass Autohäuser Modellvarianten und Fahreindruck virtuell vermitteln – und sich so das Vorrätighalten unterschiedlicher Modelle sparen können. Zudem wird unser Alltag mehr und mehr von Algorithmen bestimmt. Sie zeigen uns Nachrichten an oder verbergen sie, ob in der Suchmaschine oder auf dem Social-Media-Account. Und auf dem Weg zum selbstfahrenden Auto hält das liebste Fortbewegungsmittel automatisch die Spur und die Fahrgeschwindigkeit. Sich nicht an die (Verkehrs-) Regeln zu halten, wird möglichst schwer gemacht; der Entscheidungsspielraum des Verwenders immer weiter eingeschränkt.
Im Prinzip sind wir das seit Jahren von Kameras gewöhnt. Die treffen Entscheidungen viel präziser und vor allem schneller als der noch so geübte Fotograf. Man denke nur an den Autofokus und die Serienbildfunktion. Wir sind so damit vertraut und es ist so nützlich, dass wir diese Kompensation der menschlichen Trägheit bei der Weiterleitung vom Sinneseindruck zum Auslösefinger nicht mehr hinterfragen. Technologisch war die japanische optische Industrie ja schon immer viel weiter vorne als die europäische Automobilbranche.
Be-greifen statt bloß zu Konsumieren
Ganz vorne ist die Fotobranche auch in der Erkenntnis, dass die Welt im Display schön und praktisch, aber nicht erfüllend ist. Wie anders lässt sich sonst der regelrechte Boom an Sofortbildkameras erklären? Vor 70 Jahren stellte Edwin H. Land die erste Sofortbildkamera in New York vor. Und pünktlich zum Jubiläum erlebt „das Polaroid“ eine Renaissance. „Viele Hersteller nehmen sich der Menschen an, die nicht von jedem Ereignis 100 Fotos auf dem Smartphone, sondern lieber ein einzelnes Erinnerungsfoto zum Anfassen haben wollen“, stellte Jan Becker im Februar 2017 in der Computerbild fest. „Fujifilm sorgte mit explodierenden Verkäufen seiner Instax-Kameras und mit dem Drucker Instax Share SP-2 für Aufsehen.“
Und auch die deutsche Traditionsmarke Leica wartete auf der photokina 2016 mit einer Leica Sofortbildkamera auf und animiert zum Kauf mit: „Frame the moment“. Gleich zu Beginn des hippen Leica-Werbefilmchens sehen wir zwei weitere Analogtrends, von denen zu sprechen sein wird: Ein Mann bringt ein Fotobuch mit zur Dachparty und dann wird eine LP auf einen Plattenspieler gelegt!
Analog ist das neue Bio
Wenn bereits Bücher zu einem Thema erscheinen, kann man mit Sicherheit von einem Trend sprechen. „Analog ist das neue Bio“ lautet der treffende Titel eines Buches von Andre Wilkens, das sich als „Navigationshilfe durch die digitale Welt“ anpreist. Und der kanadische Journalist David Sax schreibt vom „Revenge of the Analog“. Das Buch heißt auf deutsch „Die Rache des Analogen: Warum wir uns nach realen Dingen sehnen“. Sax schreibt ausführlich über Vinyl und das Revival der Plattenläden, die nun nicht mehr staubig und vollgestopft sind, sondern eher wie Boutiquen aussehen. Knapp 12 Millionen Vinylplatten wurden 2015 in den USA verkauft und übrigens auch 100 Millionen 35mm-Filmrollen. Sax macht eine „postdigitale Wirtschaft“ aus. Im Musikgeschäft, in der Fotografie, bei Brettspielen oder bei Notizbüchern (am Beispiel Moleskin) – überall gehen seiner Beobachtung nach die Umsatzzahlen wieder nach oben. In Berlin wurde gar 2017 wieder ein LP-Presswerk eröffnet.
Das haptische Bilderlebnis auf Wachstumskurs
Und der deutsche Photoindustrie-Verband vermeldet: „Die Nachfrage nach dem haptischen Bilderlebnis ist weiter auf Wachstumskurs. Der Absatz von Fotobüchern befindet sich seit Jahren im Aufwind. Dieser wird für die kommenden Jahre weiter anhalten. Auch wenn DIN A4 mit fast 50 Prozent das beliebteste Fotobuchformat der Konsumenten ist, so stieg 2016 der Anteil der Fotobücher in DIN A3 und größer sowie der quadratischen Formate. Im Schnitt umfassen die selbst gestalteten Fotobücher 140 Aufnahmen.“
Der Uferlosigkeit von gestreamter Musik und unendlichen Schnappschüssen wird Begrenzung entgegengesetzt; der Entwertung durch Verfügbarkeit Wertschätzung durch die Entscheidung für ein Objekt. Beispielsweise für eine LP mit richtiger Hülle, die 25 Euro kostet – mithin mehr, als man sonst im ganzen Jahr fürs Musikhören ausgibt. Man belichtet einen Film und ist gespannt, welche Bilder gut geworden sind. Zeit, auch um Distanz zu gewinnen und objektiver über das Ergebnis zu urteilen. Um dann ein Motiv zu printen statt zehn zu posten.
Auch Vinyl ist zurück!
Das hat mit Wertschätzung und Differenzierung, aber nichts mit Technikfeindlichkeit oder Ablehnung des Digitalen zu tun. Es kommt vielmehr zu spannenden Symbiosen, wie bei der Neuauflage des legendären Albums „Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band“ von den Beatles. Produzent war Sir George Martin, der im vergangenen Jahr im Alter von 90 Jahren starb. Für die 2017 zum 50. Jubiläum erschienene Neuauflage des Albums hat sein Sohn Giles Martin die Musik mit einem Team aus Toningenieuren und Restauratoren in Stereo und 5.1 Surround neu abgemischt – natürlich in Londons Abbey Road Studios. Auf Wunsch der Beatles war „Sgt. Pepper“ seinerzeit in vier Mono-Spuren aufgenommen worden, die die Basis für den neuen Mix bildeten. Die Deluxe-Jubiläumsedition gibt es nun auf CD, aber auch als traditionelle Doppel-LP. Gerade Musiker empfinden analog Aufgenommenes als “more heartfelt, raw, and organic,” wie Sax es ausdrückt. (Klingt wirklich nach dem neuen Bio, oder?)
Berühren heißt Begreifen
Woher aber kommt das verbreitete Bedürfnis, sich neben dem Digitalen auch wieder verstärkt mit analogen Audio- oder Bildkreationen zu befassen? Ganz einfach: Menschen lieben es, Dinge in die Hand zu nehmen, etwas anzufassen. Und natürlich auch „free hugs“, Umarmungen, wo immer man sie bekommen kann, auch von Fremden, die das in manchen Großstädten anbieten.
Der Tastsinn ist der erste Sinn, der sich beim Fötus entwickelt. Martin Grunwald, seit 1995 Leiter des einzigen Haptik-Forschungslabors in Europa an der Universität Leipzig, sagt: „Der Tastsinn ist ein Lebensprinzip, ohne ihn gibt es kein Leben. Es werden Menschen blind oder taub geboren, aber ohne den Tastsinn ist noch niemand auf die Welt gekommen.“ Und er betont die Bedeutung des Anfassens, weil das „Begreifen“ die elementarste Aneignungsform ist.
Man kann sich verhören oder versprechen, aber nicht verfühlen. Das Tasten ist nahezu untrüglich. Wir erinnern uns daher auch doppelt so gut an etwas, das wir angefasst haben, als an etwas, das wir nur gesehen oder von dem wir nur gehört haben.
„Haptische Medien erzeugen durch ihre Körperlichkeit automatisch mehr Emotion“, sagt Olaf Hartmann. Er gilt als einer der führenden Experten in Europa für die Nutzung der Haptik in Markenkommunikation und Verkauf. Hartmann stellt fest: „Die Rolle der Haptik in der Kommunikation – ihr großer Einfluss auf die Wahrnehmung, die Entscheidung und die Wertschätzung – wurde sehr lange unterschätzt.“
Möchte man also für seine Fotografien Aufmerksamkeit erreichen, ist es geradezu unerlässlich, sie in gedruckter Form zu zeigen. Fotografie ist von der Herkunft her ein analoges Medium und der Print bleibt weiterhin die angemessene Präsentationsform. (Wohingegen sich ehemals ebenfalls analoge Medien wie der Film sehr gut für die digitale Form eignen, weil sie zeitbasiert sind.)
Haptik erzeugt Aufmerksamkeit
Vor zehn Jahren dachte man, Print sei erledigt. Heutzutage liegen laufend neue Zeitschriften am Kiosk. Wer etwas auf Papier in die Hand nimmt, verbindet damit Muße. Die Ablenkungen durch Links im Text und aufploppende Meldungen auf dem Bildschirm fehlen, so bald man einen Text in einem Magazin oder einem Buch liest. Genau so geht es beim Zeigen von Fotografien. Sind sie in einem Buch versammelt, erhöht das automatisch die Aufmerksamkeit desjenigen, der sie sich ansieht. Sind es Prints, ist der Weg, sie sich an der Wand vorzustellen, ein kurzer. Der Wisch auf einem Tablet hingegen rückt sie immer in die Nähe der beliebigen Verfügbarkeit. So schön sie von hinten beleuchtet und optimal zu erkennen sind: Das wirkt trotzdem nie wertig.
Jon Christoph Berndt schreibt in seinem neuen Buch „Aufmerksamkeit“: „Wir schenken unsere Aufmerksamkeit bevorzugt bekannten Dingen, denen wir vertrauen und die wir mögen und für >premium< befinden. Das geschieht in der Regel unbewusst.“ Von dieser unbewussten Reaktion kann man profitieren.
Man sollte jedoch, diese Mahnung sei zum Schluss gestattet, zuvor daran denken, dass sich inhaltliche Qualität in der Fotografie vor allem über die zeitliche Dauer in der Beschäftigung mit dem Gegenstand einstellt (nicht mit der Technik). Das Anfassen des Prints alleine wird nicht viel bewirken, wenn das Motiv an sich nicht berührt.
Eine Antwort
Ich habe eine Nikon D800 und das ist ein Wunderwerk der Technik mit 457 Seiten Bedienanleitung. Doch ich fotografiere immer noch gern analog mit einer meiner Mittelformatkameras. So ein Scan vom 6x7cm Dia stellt von der Qualität her so manche Vollformat-DSLR in den Schatten