DiCorcia Photographs 1975-2012 in Frankfurt

Es gibt in diesem Sommer eine Ausstellung, die jeder gesehen haben sollte, der mit einer gewissen Anspruchshaltung fotografiert. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main zeigt eine Retrospektive des Fotografen Philip-Lorca diCorcia. Es ist die erste Überblicksausstellung seiner Arbeiten in Europa und man darf durchaus dankbar sein, diese in Deutschland zu haben. Ein wenig mag eine Ausstellung in Frankfurt nahe liegen, da sich einige der ausgestellten Werke ohnehin in der Kunstsammlung der Deutschen Bank befinden.

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Philip-Lorca diCorcia
Porträt des Künstlers © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2013
Foto: Norbert Miguletz

Philip-Lorca diCorcia  gehört, wie auch der Pressetext herausstellt, „zu den bedeutendsten und einflussreichsten Fotografen unserer Zeit“. Er wurde 1951 in Hartford, Connecticut, USA, geboren, studierte an der School of the Museum of Fine Arts in Boston, und erwarb 1979 an der Yale University den Master of Fine Arts in Fotografie. Bereits 1993 richtete das Museum of Modern Art in New York eine Einzelausstellung für diCorcia aus. Gegenstand der Ausstellung war die Serie über Stricher, die er in Los Angeles fotografiert hatte und die sich als Karriereticket erwies. Im MoMA hieß die zwischen 1990 und 1992 entstandene Serie noch „Strangers“, in Frankfurt „Hustlers“. Die Fotoarbeiten sind in der Tat extrem beeindruckend, damals wie heute. Komplett inszeniert werden die männlichen Prostituierten in Szenerien platziert, die der Fotograf ausgewählt und ausgeleuchtet hatte. In Hollywood. Die Männer spielen eine Rolle, für die sie bezahlt werden. Die Bildtitel geben Auskunft über den Namen, das Alter und den Geburtsort der Männer sowie über die Summe, die sie für das Posen verlangten. DiCorcia hat damit etwas Neues gewagt, ist ein persönliches Risiko eingegangen und hat spektakuläre visuelle Lösungen gefunden. Vor der Leistung kann man nur den Hut ziehen.

 

PHILIP-LORCA DICORCIA Ike Cole, 38 years old, Los Angeles, California, $ 25, 1990-92 Fujicolor Crystal Archive print 30 x 40 inch (111.8 x 167.6 cm) © Courtesy of the artist und David Zwirner, New York und Sprüth Magers, London/Berlin
PHILIP-LORCA DICORCIA
Ike Cole, 38 years old, Los Angeles, California, $ 25, 1990-92
Fujicolor Crystal Archive print, 30 x 40 inch (111.8 x 167.6 cm)
© Courtesy of the artist und David Zwirner, New York und Sprüth Magers, London/Berlin
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PHILIP-LORCA DICORCIA
Eddie Anderson, 21 years old, Houston, Texas, $ 20, 1990-92
Fujicolor Crystal Archive print, 30 x 40 inches (76.2 x 101.6 cm)
Courtesy the artist und David Zwirner, New York/London

Diese Serie machte diCoricia jedoch nicht nur in der Kunstwelt, sondern vor allem auch in der Modeszene bekannt. „Die Bilder prägten einen Stil, den die Magazine dann von mir sehen wollten“, sagt er. Er interessiert sich tatsächlich für Menschen, die am Rand der amerikanischen Gesellschaft leben, wird aber hinsichtlich seines fotografischen Stils gefeiert und dieser von der kommerziellen und oberflächlichen Modewelt adaptiert.

Die inszenierte Fotografie wird leicht zur Gratwanderung zwischen Kommerz und künstlerischem Ausdruck. Nährt sich die frühe Serie über die Stricher noch aus der Lebenserfahrung und dem gedachten Klischee zugleich, driftet diCorcias neue Serie „East of Eden“ ins Werbliche ab. Wir nehmen in dieser Art der Fotografie als Betrachter nicht mehr an einer Erfahrung des Künstlers teil, sondern uns wird eine Weltanschauung mittels Symbolik und Klischees „verkauft“.

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PHILIP-LORCA DICORCIA
The Hamptons, 2008
Inkjet print, 40 x 60 inches (101.6 x 152.4 cm)
Courtesy the artist und David Zwirner, New York/London

Der Cowboy reitet durchs öde Land. Zwei Hunde gucken in einem Luxusapartment in den Hamptons einen Porno. (Ganz große Inszenierung mit Hundetrainerin und einkopiertem Film.) Es gibt einen gephotoshoppten Apfelbaum und eine Eva, die wie eine Barbiepuppe wirkt. Ein Paar, er schwarz, sie weiß, posiert in einer typisch amerikanischen Wohnküche mit Oberlicht und Hund. Dem flüchtigen Betrachter wird entgehen, dass beide blind sind. Erst recht aber ahnt er vermutlich nicht die „Hintergedanken“ des Künstlers:

Dass die beiden blind sind, bedeutet für diCorcia nicht nur, dass sie am Leben nur eingeschränkt teilhaben können. Sie haben auch den Blick ins Paradies verloren. „Blinde, die von Geburt an blind sind, träumen nicht. Jedenfalls nicht in dieser verschlungenen Bilderflut, die Sehende aus ihren Träumen kennen.“

Noch zugespitzter überlagern sich die Probleme, unter denen Amerika aktuell leidet, – Finanzkrise, Überschuldung und Naturkatastrophen  –  in seiner Aufnahme Iolanda. Wie absurd und größenwahnsinnig müssen der Frau die New Yorker Hochhäuser vorkommen, diese Symbole von Wachstum und Wohlstand, die sie von ihrem Hotelzimmer aus sieht? Im Fernsehen rast schon der nächste Tornado auf die Stadt zu. Doch die Frau starrt auf die friedliche Skyline  – und ihr Spiegelbild, das sich im Panorama-Fenster darüber legt. (ArtMag77)

Es ist das erste Foto in der Ausstellung und ich habe dabei nicht an die Apokalyptischen Reiter gedacht, sondern es als Portätfoto bewundert, kunstvoll und mit Bedacht gemacht. Leider beginnt die Ausstellung genau mit diesen symbolisch überfrachteten Arbeiten und geht dann biografisch zurück bis in die Siebziger. Die überbordende Phallussymbolik fiel mir erst beim Zurückkommen auf. Sexualität spielt direkt oder indirekt eine ziemlich wichtige Rolle in diCorcias Arbeiten. Und auch, dass bei ihm Frauen öfter mal auf dem Bett sitzen und Fernseher ein einkopiertes Bild zeigen, bemerkt man erst beim Nacharbeiten – empfohlen sei hier vor allem das Buch „Eleven“ mit diCorcias-Modefotos von genial bis verstörend, das noch dazu gerade preisreduziert zu haben ist.

Die Pole-Dancer in der Serie „Lucky 13“ von 2004 fand ich nur irritierend ausgeleuchtet – auch hier entging mir deren tiefere Bedeutung.

Die Tänzerinnen sind für ihn eine Metapher für die Menschen, die aus dem World Trade Center gefallen sind. Sie hängen fast immer kopfüber, als würden sie fallen. „Ich habe Höhenangst und das schlimmste, was ich mir vorstellen kann, ist von einem hohen Gebäude aus herunter zu fallen. Mir kam es so vor, dass die USA eine Art Fetisch aus 9/11 gemacht haben. So fügte sich für mich das eine zum anderen. Auch in der Mythologie sind Eros und Thanatos eng miteinander verbunden. Sie sind jeweils die Kehrseite des anderen.“ (ArtMag77)

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PHILIP-LORCA DICORCIA
Lola, 2004
Fujicolor Crystal Archive print
64 1/2 x 44 1/2 inches (163.8 x 113 cm)
Courtesy the artist und David Zwirner, New York/London

 

Nun verbindet man mit diCorcia nicht nur Inszenierungen, sondern vor allem wurden seine spektakulären Straßenfotos „Heads“ von 2000 bekannt. Die Idee war brilliant, die Fotos sind großartig, aber die hat man nun schon so oft gesehen, dass sie wie alte Bekannte sind, die nichts Überraschendes mehr zu bieten haben. Aber wer sie nicht kennt, kann sich auf die Begegnung mit wenigen, aber großartigen Menschenstudien freuen.

Die vorherigen Straßenfotos „Streetwork“ aus den Neunzigern fand ich hingegen schlecht gealtert, beliebig und wenig inspirierend. Da hätte aus meiner Sicht eine Serie seiner Modefotos für das W Magazine mehr bewirkt. Aber ich nehme einmal an, der Geruch des Kommerziellen sollte in den Hallen der Schirn gar nicht erst verbreitet werden – dabei könnten die W-Modestrecken kaum weniger kommerziell wirken.

A Storybook Life (1975-1999) ist in Frankfurt vollständig aufgefächert und es lohnt sich, diese eher alltäglich wirkenden Arbeiten genauer und auch mehrfach anzusehen. (Schon, weil sie leider schlecht ausgeleuchtet sind.) An ihnen zeigt sich, welch brillanter Fotograf diCorcia ist, mit welcher Aufmerksamkeit er das Leben beobachtet. Da kann man sich, wenn man mag, eine Scheibe Inspiration abschneiden. Durchaus fragwürdig finde ich die Behauptung des Wandtextes, „dass die banal, intim und real wirkenden Alltagsmomente inszeniert sind. Die vermeintlich spontan festgehaltenen Bilder sind von Anbeginn nach Anweisungen des Künstlers arrangiert“. Es gibt ein wunderschönes Foto von Philip-Lorcas Bruder, der eine Zimmerdecke abschleift. Da sieht man im Hintergrund einen runden Spiegel. Mag sein, dass hier die Hand des Künstlers korrigierend eingegriffen hat. Aber hat er wirklich „von Anbegin an“ das Zimmer in Schutt und Asche gelegt, um dieses Foto zu machen? Wohl kaum!

Wenn es dann noch heißt, „sie sind vielmehr Konstruktionen einer Wahrheit auf übergeordneter Ebene, wobei der methaphorische Prozess der Fotografie zum Vorschein gebracht wird“, kommt es mir so vor, also sollen hier wundervolle, aber durchaus biografische Fotografien auf museales Niveau hochmystifiziert werden.

So wie man nicht alles für bare Münze nehmen sollte, was auf den Fotografien zu sehen ist, so muss man auch nicht alles für das letzte Wort halten, was an Text mitgeliefert wird. Sich diCorcias Arbeiten genau anzusehen und sich seine Gedanken dazu zu machen, lohnt in jedem Fall.

SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, Römerberg, 60311 Frankfurt. DAUER: bis 8. September 2013. ÖFFNUNGSZEITEN: Di, Fr – So 10–19 Uhr, Mi und Do 10–22 Uhr. EINTRITT: 8 €, ermäßigt 6 €, KATALOG: 36,00 €
Die von der Schirn Kunsthalle Frankfurt konzipierte Ausstellung wird im Anschluss im De Pont Museum of Contemporary Art in Tilburg in den Niederlanden zu sehen sein (5. Oktober 2013 bis 19. Januar 2014)

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