Beim Buchtitel „Papa, Gerd und der Nordmann“ denkt man womöglich an eine familiäre Beziehung unter Männern oder an Lbgtq+. Um das gleich zu spoilern: Gerd heißt die Mutter des Fotografen Espen Eichhöfer, der im Osten Norwegens als Kind einer norwegischen Mutter und eines deutschen Vaters geboren wurde. Kindheit und Jugend verbrachte er in Nordrhein-Westfalen. Heute lebt er (natürlich) in Berlin und ist Mitglied der Ostkreuz-Agentur der Fotografen.
Norwegen war für ihn nie nur Ferienland
51 der 52 Bilder im Buch entstanden zwischen 2009 und 2019 in Norwegen, angetrieben von dem Wunsch, sich, wie Espen Eichhöfer schreibt, Klarheit über das eigene Leben und die eigene Herkunft zu verschaffen. Ziemlich weit hinten im Bildband steht auf der linken Seite ein Porträt der Mutter, aufgenommen in Deutschland, und rechts das des Vaters, fotografiert in Norwegen: Eine beeindruckende und berührende Doppelseite. Sie reflektiert das Thema des ganzen Buches, die Suche nach Heimat und die Frage nach der eigenen Herkunft und Identität. Und sie zeigt das Können des Bildautors. Die Mutter als in sich gekehrte Heilige in fast goldenem Orange in einem Badezimmer am Niederrhein ist einfach ein umwerfendes Bild. Der quer auf einem Stilmöbelbett liegende, zum Licht schauende Vater im Hemd mit Norwegenwappen korrespondiert perfekt dazu. Solche sehr intim wirkenden Aufnahmen der eigenen Eltern zu fotografieren erfordert ein hohes Maß an Professionalität gepaart mit künstlerischem Ausdruckswollen.
Der Bezug zur eigenen Lebensgeschichte
Wenn man sich fragt, warum es viele gute Fotografinnen und Fotografen gibt, aber nur wenige herausragende, dann zeigt sich die biografische Verknüpfung mit dem Thema als ein entscheidender Aspekt. Der Bezug zur eigenen Lebensgeschichte ist definitiv ein starker Motor, um auch über lange Zeiträume an der Bearbeitung einer fotografisch-künstlerischen Fragestellung festzuhalten. Die fragile Balance zwischen Nähe und Distanz zu wahren ist ein weiterer Faktor. Espen Eichhöfers Bildband demonstriert das geradezu paradigmatisch. Seine emotionale Nähe zu den Protagonisten erlaubt dem Fotografen die Teilhabe an sehr persönlichen Momenten. Deren bildnerisches Potenzial realisiert er durch seine professionelle Distanz.
Die Bilder entstanden in seinem Herkunftsland Norwegen. Protagonisten seiner Bilder sind die eigenen Verwandten, Freunde und die Andersens (Kjell mit seiner Frau Vinai aus Thailand und deren zwei Kinder). Mit ihnen beginnt auch der Bildband: Vinai mit Ohrschützern in einer Landschaft stehend, Zielscheiben mit Tiermotiven neben sich. Die Fotografie besticht durch diesen surrealen Moment ebenso wie durch eine lebendige Farbigkeit. Das folgende Motiv zeigt Kjell mit seinem Hund an einem Wasserlauf im Wald, wie beschützt von der Natur. Ein Bild für die Ewigkeit. Tiefgründig wird es durch den umgestürzten Baum, dessen Entwurzelung. Diese Entwurzelung eröffnet wiederum eine neue, sehr stimmig wirkende Situation: das perfekte Sinnbild für Espen Eichhöfers Thema.
„Papa, Gerd und der Nordmann“ ist ein ästhetisch wie emotional überzeugender Bildband. Auch Dank seiner haptischen Qualität bereitet es Freude, ihn zur Hand zu nehmen und wiederholt durchzublättern. Die Gestaltung besorgte Katharine Lemke. Unbedingt erwähnt soll sein, dass es einen schön geschriebenen Einleitungstext des Fotografen gibt.
Der dreisprachige Bildband ist im September 2021 bei Hartmann Books erschienen und kostet nur 38 Euro. ISBN 978-3-96070-069-2