Georges Seurat: Figur im Raum

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Gerne empfehle ich Fotografen, ab und an ins Museum zu gehen oder sich eine (Kunst-) Ausstellung anzusehen. Heute war ich in der Seurat-Ausstellung in der Schirn in Frankfurt am Main, die leider nur noch bis 9. Mai zu sehen ist. Es ist eine kleine Ausstellung über einen spannenden Künstler, dessen Werk in nur einer Dekade entstand, denn er verstarb bereits im Altern von 31 Jahren.

Der französische Neoimpressionist Georges Seurat (1859–1891) gilt als Ikone der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts und als wichtigster Vertreter des von ihm entwickelten Pointillismus. Mit rund 60 Gemälden, Ölstudien und Zeichnungen aus öffentlichen und privaten Sammlungen aus u. a. London, Paris, Zürich, New York und San Francisco bietet die Ausstellung in der Schirn Kunsthalle einen repräsentativen Überblick und nimmt zugleich einen wichtigen Aspekt von Seurats OEuvre in den Blick: die Figur im Raum. Kein Bildthema vermag ähnlich viel über Seurats Kunst zu erzählen.

Seurat: Etude Baignade, 1883
Seurat: Etude Baignade, 1883
Seurat: Le Cirque, 1890-91
Seurat: Le Cirque, 1890-91

Gerade wer sich bisher nicht viel mit bildender Kunst befasst hat, findet mit Seurat einen wunderbar leichten Zugang. Es gibt so viele Elemente, die einen fotografischen Bezug haben und damit einen Anknüpfungspunkt bilden. Der Pointellismus an sich, das Nebeneinandersetzen der reinen Farben, die sich erst im Auge verbinden, das kennen wir Pixelschubser natürlich inzwischen bestens. Etwas Ähnliches gab es aber schon früher: Der erste Farbprozess mit Kartoffelstärke, das Autochrome-Verfahren der Brüder Lumière, wurde 1907 patentiert. Die Autochrome sehen in der Nahsicht ziemlich pointellistisch aus.  In der Tat schuf Seurat seine Arbeiten in der Pionierzeit der Fotografie und das fällt besonders an dem in Frankfurt präsentierten Hauptwerk „der Zirkus“ von 1890 auf. Es ist wie eine Momentaufnahme, oder besser: eine aus verschiedenen Momenten zusammengesetzte Darstellung einer Zirkusvorführung. Die Gestaltung des Vordergrundes, des Mittelteils und des Hintergrundes ist überaus modern und wirklich beeindruckend. Eine Figur ist im  Flug fixiert, und auch die Anschnitte wirken durchaus fotografisch. Und das Pferd! Man beachte die Beinstellung. Erst durch Eadweard Muybridge, der 1878 erstmals erfolgreich ein Pferd in Bewegung fotografierte, erkannte man, dass ein Pferd die Beine nicht zugleich nach vorne und hinten streckt (wie auf alten Gemälden zu sehen) und dabei in der Luft schwebt. Seurat’s Bild markiert genau diese Phase, in der sich die Realitätserkennis und ihre Darstellung durch das naturwissenschaftliche Interesse der Zeit und die Verbreitung des fotografischen Verfahrens grundlegend ändern.

Seurat: La Pecheuse, 1884
Seurat: La Pecheuse, 1884
Seurat: Le Glaneur, 1882
Seurat: Le Glaneur, 1882

Die geradezu mathematisch genauen und akribisch gepunkteten Gemälde sind sehr beeindruckend, aber die Zeichnungen sind wirklich umwerfend! Die meisten entstanden mit Kohle auf rauem Papier und sehr oft arbeitet er auch hier mit dem optischen Effekt, dass die Bilder aus der Nähe anders wirken als aus einiger Entfernung. Ganz konträr zum Leben in Paris und der Industrialisierung sucht Seurat seine Motive auf dem Land und sehr häufig sieht man die Figur von hinten. Das erinnert mich an Fotografen, die sich nicht trauen, Motive, vor allem fremde Menschen, direkt von vorne zu fotografieren, weil sie sich dadurch mit dem Motiv konfrontieren müssten. Dass sich Seurat mit den ländlichen Motiven an den klassischen malerischen Vorbildern abarbeitet, ist verständlich, dass auch heute unter Fotografierenden eine Vorliebe für ländliche, romantische Motive herrscht, eher weniger. Ein echter Knüller ist in dieser Beziehung ein Gemälde, das eine klassische Landschaft zeigt, in der man normalerweise vorne einen grasenden Ochsen erwarten würde. Stattdessen aber steckt dort ein Pfosten. Wenn das nicht modern ist!

2 Antworten

  1. Ich bin grad im letzten Absatz des interessanten Artikels über diese Aussage gestolpert: „Dass sich Seurat mit den ländlichen Motiven an den klassischen malerischen Vorbildern abarbeitet, ist verständlich, dass auch heute unter Fotografierenden eine Vorliebe für ländliche, romantische Motive herrscht, eher weniger.“
    Warum sollten sich heute die Menschen nicht ebenso an ländlichen, romantischen Motiven abarbeiten wie es zu damaligen Zeiten malerisch der Fall war? Ist es dem Menschen nicht auch eigen, sich gern in Romantik zu verlieren und sich eine heile Welt zu ‚bauen‘. Insofern würde ich hier keine unterschiedliche Messlatte anlegen.

  2. Das Interessante an den Zeichnungen, die auf den ersten Blick mit ihrem groben Zeichnduktus beeindrucken, ist die Präzision der Umrisse und der Tonwerte. Mit ein wenig Abstand und etwas Augenzukneifen wirken die Zeichnungen fast fotorealistisch. Vielleicht hat das auch etwas mit dem in der Ausstellung mehrfach beschriebenen faserstoffhaltigen Zeichenpapier zusammen, das eine gewisse „lebendige Unruhe“ in die Zeichnung hineinbringt. Die Wirkweise erinnert mich an das Korn von Schwarzweißfilmen. Diese (auch bei Photoshop so bezeichneten) „Bildstörungen“ erweckend den Eindruck, es seien zusätzliche Details vorhanden, was von Augen und Gehirn möglicherweise positiv bewertet wird.

    Zur Infiltration der modernen Welt in die (neo)impressionistischen Bildwelten: Auch bei „Etude Baignade“ sind klar erkennbar rauchende Schlote in den Hintergund der idyllischen Badeszene gekrochen. Ähnliches ist auch bei anderen Impressionisten zu finden. Obgleich ich dieses Phänomen kenne, bin ich immer wieder überrascht – so richtig fügt sich bei mir das Bildthema „Industrielandschaft“ nicht so recht in die (immer noch) gegenständliche Malweise aus dieser Zeit. Die moderne Welt als gegenständliches Gemälde – am besten in Öl auf Leinwand – ist ja dann auch eher eine Randerscheinung geblieben. Der sozialistische Realismus einmal außen vor.

    Die moderne Welt wurde in anderen Techniken (Fotografie, abstakte Malerei, Video etc.) zum Thema.

    Dennoch ist es richtig, das Fotografen von den Bildkompositionen und Figurenanordnungen viel lernen können. Wobei es für dokumentarisch arbeitende Fotografen nur selten möglich ist, derart ausgewogene Kompositionen wie bei der gezeigten „Etude Baignade“ zu erreichen. Auch die wirklichen Könner der grafischen Komposition (Catrier-Bresson, James Nachtwey) entscheiden sich in der Regel für die radikale Vereinfachung des Bilds – möglichst viel Unruhe aus dem Bild raushalten, das Subjekt mit vielleicht ein oder zwei zusätzlichen Elementen isolieren und fertig ist das Bild. Und das ist schon schwer genug. In schwarzweiß gelingt das meist besser als in Farbe, weil diese zusätzliche Komplexitätsgrade hereinbringt.

    Zusammenfassend: die komplexen und dennoch ausgewogenen Kompositionen, an denen die Maler lange gearbeitet haben, sind nur sehr selten in der ungestellten Fotografie erreichbar. Wer mit den Mitteln der Fotografie versucht, Gemälde zu schaffen, wird nur selten Erfolg damit haben…

    Grüße und Danke für Ihren Artikel
    Frank Nürnberger