Neue Fotobücher wirken heutzutage wie eine Bilderflut mit Buchdeckeln. Und auch wenn sich jeder einzelne Autor und jeder Verlag sicherlich große Mühe gibt: Es ist schwierig, aus der großen Zahl der Neuerscheinungen herauszustechen und Begeisterung zu entfachen. Einem aber gelingt dies nun schon zum zweiten Mal: Dem in Madrid lebenden Europäer Carlos Spottorno. Mit dem viel beachteten PIGS im Stil des Wirtschaftsmagazins The Economist zum Thema südliches Europa wurde er 2013 bekannt.* Jetzt legte er zusammen mit dem Journalisten Guillermo Abril ein Werk vor, das wirklich originell ist: Der Riss – eine Reportage in der Form und Aufmachung einer Graphic Novel. Insgesamt nichts weniger als genial gemacht.
Schon als „normale“ Reportage wäre das Material überwältigend. In der Präsentation als Bilderstory erschließen sich aber einige Facetten mehr: Man erfährt in erster Linie viel über Europas Außengrenzen und tatsächliche, inzwischen historische Vorfälle im Zusammenhang einer längeren Entwicklung. Die zurückhaltende Berichterstattung offenbart auch einiges über die Arbeit von Spottorno und Abril unter wahrlich abenteuerlichen Umständen. Die Reportagen im Auftrag der Zeitschrift El Pais Semanal begannen in Melilla, gingen weiter auf Lampedusa, führten die beiden in die Ukraine und schließlich bis in den Norden Finnlands.
Nach drei Jahren Arbeit, mehreren Titelstorys, dutzenden Seiten in Zeitschriften und einem World Press Photo Award entstand die Idee, 25.000 Fotos und den Inhalt von fünfzehn Notizbüchern in eine andere Erzählform zu transformieren. Mein Respekt für Guillermo Abril, der es schafft, mit minimaler Versprachlichung der Umstände ein lebhaftes Bild zu zeichnen. Carlos Spottorno wählt auch nicht einfach Bilder aus, sondern studierte genau die visuelle Dramaturgie von Graphic Novels mit ihren wechselnden Perspektiven, Wiederholungen und den hervorgehobenen Details.
Lassen wir Carlos Spottorno selbst zu Wort kommen: „In einem gewöhnlichen Buch hätte man eine so komplexe Geschichte nicht wiedergeben können. Ich glaube nicht, dass wir es mit einer Fotostrecke plus Prolog geschafft hätten, so detailliert und genau zu erzählen wie es mit der Graphic Novel möglich wurde. Und egal, wie gut so ein normales Buch geworden wäre: Ich glaube nicht, dass wir damit ein breites Publikum erreicht hätten. Ich weiß aus Erfahrung, dass Fotobücher es schwer haben. Nur wenige Leute kaufen sie. Als ich darüber nachgedacht habe, wie man die Reportage so erzählen kann, dass Text und Foto gleichberechtigt sind und sich gegenseitig bereichern, habe ich mich mit der Graphic Novel beschäftigt und erkannt, dass das die perfekte Sprache für uns ist. Dann musste ich nur noch die Fotos so bearbeiten, dass das Ergebnis nicht aussah wie ein Fotoroman.“
Und das ist ihm, wie man sieht, perfekt gelungen. Unbedingte Kaufempfehlung für „Der Riss“, 32 Euro
Bis 13.12.2017 sind die Arbeiten im Literaturhaus in Stuttgart ausgestellt.
*Mein Buch „Fotopraxis mit Perspektive“ enthält ein ganzes Kapitel, in dem ich mit Carlos Spottorno über PIGS spreche.