Manfred Sickmann: Das Antlitz des Anderen

Das Missionieren bezüglich anspruchsvoller Fotoprojekte für Privatiers wie Berufsfotografen hatte ich aus Mangel an Resonanz und Zeit eigentlich schon aufgegeben. Aber dann kam eine E-Mail, die zeigt, es war nicht wirkungslos: „weil Ihr Grundgedanke über das Glück, mittels Kamera seine Umgebung intensiver zu erleben und Ihre Bücher mir den Weg geebnet haben, mich fotografisch zu entwickeln, möchte ich Ihnen ein paar Eindrücke von meiner Ausstellung in der ehemaligen Synagoge in Kippenheim zuschicken. Über ein Jahr lang habe ich mehr als 100 Portraits fotografiert, wunderbare Begegnungen mit Bekannten und Fremden gehabt, und auch bei der konkreten Ausstellungsvorbereitung viel und zum Teil unverhoffte professionelle Unterstützung erhalten. Alles mündete in eine sehr gut besuchte und atmosphärisch dichte Vernissage.“
Ein großartiges Beispiel für Engagement, das ich gerne hier vorstelle. Und wenn Ihnen der Bildautor, der dieses Mal auch den Text verfasste, bekannt vorkommt, dann weil er hier vor zwei Jahren schon einmal mit einer fotografischen Arbeit vorgestellt wurde, der Spargelernte.

Ehemalige Synagoge

Die Entstehung meines Fotoprojektes „Das Antlitz des Anderen – eine fotografische Litanei für Respekt und Zuversicht“

Ende 2017 verspürte ich den Impuls, eine Fotoserie mit Menschen zu realisieren. Der Ansatz war zunächst ein persönlicher – nämlich über die Fotografie die Beziehung zu meinen Freunden und Bekannten zu pflegen. Fototechnisch hatte ich die Vorstellung, Gesichter vor schwarzem Hintergrund darzustellen. Ein bekanntes fotografisches Vorgehen, bei dem die Kamera so eingestellt wird, dass bei Tageslicht ein Dunkelbild entsteht und unter Einsatz eines Blitzes nur das Gesicht der portraitierten Person korrekt belichtet wird.
Erste Versuche mit Selbstportraits, Portraits meiner Frau und Freunden in ihrer häuslichen Umgebung waren so beeindruckend für mich, dass ich mir Gedanken über ein Konzept für ein Projekt zu machen begann. Die positive Rückmeldung der Portraitierten verstärkte diese Überlegung.

Das Antlitz – ein wunderbares altes Wort

Der Schlüsselbegriff war schnell gefunden: das Antlitz. Dieses wunderbare alte Wort, zusammengesetzt aus der Vorsilbe „ant“ = gegen und dem mhd. „litze“ = Blick, also in der Bedeutung von „das Entgegenblickende“. Die Kraft dieses Wortes im Vergleich zu „Angesicht“ und „Gesicht“ hat mich sofort gefesselt. Die Assoziation zu August Sanders „Antlitz der Zeit“ im Fotografischen und dem „Antlitz Jesu Christi“ im Sakralen war gewollt.

Antlitz Junge

Antlitz Frau

Antlitz Mann

Wofür bitten die Portraits?

Während ich weiter Portraits aufnahm, feilte ich am Thema des Projektes. Aus einer Serie, in der der Portraitierte dem Betrachter in immer der gleichen Weise als „das Entgegenblickende“ begegnet, entstand bald der Begriff der „Litanei“ als eine in immer gleicher und monotoner Weise formulierte Fürbitte.
Für was aber sollten die Portraits bitten? Das musste etwas mit mir, meinen Ängsten und Hoffnungen zu tun haben, die mich in meinem Alltag, auch mit 68 Jahren, begleiten.
Jede Form von überzogenem Pathos wollte ich vermeiden. Letztendlich landete ich bei den Begriffen, die meine Auseinandersetzung mit der sich dramatisch verändernden Welt am besten wiedergeben: gegen die schwindende Achtung vor dem Menschsein den Respekt und gegen die schleichende Resignation die Zuversicht zu stellen.
Das Projekt hatte nun einen Titel, der jeden weiteren fotografischen Schritt bestimmen sollte.
Die Portraits nahm ich in der Folge alle in der gleichen Weise auf: das Gesicht frontal zur Kamera, die Position des Gesichtes auf der rechten Vertikalen des Goldenen Schnitts, keine Vorgabe einer Pose, nur minimale Korrekturanweisungen zu Kopf- und Körperhaltung, die Lichtsetzung in Variationen des Rembrandtlichtes. Befürchtungen, dass der Aufnahmeort, ein improvisiertes Studio in unserem Haus, für manchen abschreckend wirken könnte, stellten sich als völlig unbegründet heraus. Mit der Zeit standen mir völlig fremde Menschen in meinem kleinen Studio vor der Kamera.

Antlitz Mann

Antlitz Frau

Erfahrungen mit Begegnungen und einem Fine-Art-Drucker

Bis dahin ging es nur um den Prozess und die Begegnung mit den Portraitierten – dann kam die Einladung des Fördervereins der Ehemaligen Synagoge Kippenheim.
Bei der ersten Begehung war mir klar, wie die Ausstellung an diesem Ort aussehen sollte: die Bilder müssten wie eine Litanei, ähnlich einem Kreuzgang, ganz regelmäßig und rhythmisch gehängt werden, damit die Portraitierten sich mit ihrer eigenen Geschichte organisch mit der Geschichte des Raumes verbinden; also kein Glas, kein Rahmen – nur das reine Papierbild.

Nicht erst, aber spätestens hier, beginnt auch die Erfahrung der erhofften und unverhofften, aber für das Gelingen der Ausstellung essenziellen Begegnungen: vorneweg der Fotofreund, der einen professionellen 12-Farben-Drucker zur Verfügung stellte und nicht verzweifelte, als der Drucker über zwei Stunden lang sein Wartungsprogramm durchführte, ohne dass wir Zugriff auf den Prozess hatten. Ausschalten/Einschalten brachte keine Veränderung. Als schließlich ein Update den Drucker umstimmte, waren mehrere Patronen geleert, die Wartungspatrone gefüllt und für einige Farben schließlich kein Ersatz mehr vorhanden.
Ein Freund hatte bei der Bildbearbeitung die entscheidende Idee; eine zufällige Bekanntschaft war von dem Projekt so angetan, dass sie ihr Know-how für das Finetuning der Hauttöne für den Druck zur Verfügung stellte; eine Freundin, und nur sie kam in Frage, fasste meine Projektidee und meinen Prozess auf der Vernissage treffend und bewegend in Worte; und nicht zuletzt unterstützte mich meine Familie, die das Projekt über mehr als 12 Monate und noch mal sechs Monate bis zur Ausstellung mitgetragen hat.

Als die Bilder vier Tage vor der Vernissage endlich hingen, war es ganz genau so, wie ich mir es bei der ersten Begehung der Synagoge vorgestellt hatte.

P.S.: Nach der Vernissage habe ich auf Anfrage noch mehrere Führungen gehalten. Verschiedentlich wurden Wünsche an mich bezüglich Portraitaufnahmen herangetragen.

Ehemalige Synagoge Kippenheim (Baden-Württemberg), Poststraße. Die Ausstellung ist bis Ende August sonntags von 14 bis 17 Uhr geöffnet.

3 Antworten

  1. Wie schon bei dem Hinweis auf Frank Kunerts damalige Ausstellung bin ich auch diesmal Ihrer Empfehlung gefolgt und habe heute einen Abstecher nach Kippenheim in das Gebäude der ehemaligen Synagoge gemacht.

    Fazit: Es hat sich wirklich gelohnt. Wundervolle Porträts, die ich in aller Ruhe anschauen und mich mit Ihnen auseinandersetzen konnte. Ich habe interessante Anregungen mitgenommen.

    Danke für den Tipp und beste Grüße

    Juergen May

    1. Vielen Dank für Ihr Feedback. Was Sie schreiben, freut mich, wie überhaupt Resonanz immer ermutigend ist, weiterzumachen. Ihre Worte nehme ich auch als Bestätigung für meinen Rat zum Fotoprojekt, weil sich die Dauer der Auseinandersetzung gerade in der Fotografie positiv auswirkt.